Ein lauter Böllerschuss, bekannt nur von Feuerwerken, erlöste mich von der unerträglichen Spannung, die sich v. a. in den letzten Stunden stark aufgebaut hat. Mit entsprechender Nervosität ging es teilweise mit bis zu 50km/h über verwinkelte Straßen mit Kreisverkehren, Insel, Zebrastreifen, Kopfsteinpflaster, kleine und große Kanaldeckel in Geraden und Kurven. Eine Herausforderung für diejenigen die an ihrem Rad „Jugend forscht“ betrieben haben: „Wie befestige ich Tacho, Lampe, Radflasche…?“ Die dadurch eingeleiteten massiven Bremsmanöver führten zu Stürzen und etlichen Faststürzen, als ginge es um jede Minute und Sekunde. Da hieß es für mich wieder „Augen auf und lass die mal fahren, wir haben ja noch über 1200km“. Ich hatte mich nicht wie viele andere, mit Bekannten verabredet, um zusammen zu fahren. Mein Ziel war, mich absolut an mein Tempo und Bedürfnisse zu halten. Nach ca. 50km verließen wir die Pariser Vororte und es ging weiter auf flachen Landstraßen. Einen unvergessenen Anblick bot die nicht enden wollende Rücklichterkette über eine lange Gerade. Der Wind meinte es gut mit uns, das Tempo häufig zwischen 30 und 35, Disziplin kehrte ein – so wenn es weitergeht, dann passt es.
Bis zur ersten Verpflegungsstelle (140km) blieb dies auch so. Ich nutzte diese gleich zur Nahrungsaufnahme, um einen Hungerast oder ähnliches zu vermeiden, während der Expresszug anscheinend gleich durchfuhr und so wurde die zweite Etappe trotz ähnlicher Verhältnisse gleich 2-3km/h langsamer. Nach 220km gönnte ich mir an der Kontrollstelle erstmals ein opulentes mahl und als ich zum Radparkplatz kam, war ich mehr oder weniger allein. Inzwischen natürlich stockdunkel konnte ich keine passende Gruppe mehr finden. Entweder sie war zu schnell oder zu langsam, so hielt ich mich entsprechend meiner persönlichen Vorgabe: MEIN Tempo – alles andere interessiert nicht.
Es begann langsam zu nieseln, aber ich konnte noch gut mit meiner dünnen Regenjacke fahren, auch die Straße wurde noch nicht so richtig nass – es war auszuhalten. Dafür kam es dann umso dicker. Bei km 315 gab es den ersten Starkregen und von da ab hatte ich kein trockenes Kleidungsstück mehr am Leib und Gepäck. Die Temperaturen waren mit 14-15 Grad noch angenehm. Die nahende Verpflegungsstelle nutzte ich wieder für großzügigen Essensnachschub in Form von Hähnchenschlegeln, Kartoffelpüree, Nudeln, Croissants, Pfirsich, Birne, Joghurt, Alkfrei-Bier, Kaffee. Die Leute an der Kasse dachten, ich kaufe für einen ganzen Verein ein. Meine zunächst vermutete Schwäche in den Beinen war nicht auf Formschwäche zurückzuführen sondern auf Blutleere in den Beinen, weil der Magen alles zum Verdauen brauchte. Somit waren nach 20-30km die Beine immer wieder in Ordnung, was mir dann entsprechend Selbstvertrauen für den weiteren Verlauf der Strecke gab. Trotzdem hatte ich die Schwierigkeit, mir nach wie vor nicht vorstellen zu können, wie ich von Brest wieder zurückkommen sollte. Bis Brest (km 630) kein Problem, die Distanz kannte ich von verschiedenen Fahrten zum Gardasee, Trondheim-Oslo, Martigny-Nizza,… aber mit den inzwischen nassen Klamotten und den Wetteraussichten jetzt noch rund 800km fahren – wie soll das gehen? Mir gelang es einfach nicht, mich mental auf die Strecke von 1200km einzustellen. Wahrscheinlich war es doch ein Fehler, dass freiwillige Brevet über 1000km in Osterdorf nicht zu absolvieren. Aber es gab zum Glück kein Begleitfahrzeug, die Zugstrecke liegt weit weg, und so musste ich einfach das mentale Tief durchstehen, was alles andere als leicht war. Durch die Anfeuerungsrufe und Verpflegungsstände der Anwohnern in den Dörfern sowohl tagsüber als auch nachts bestärkten mich in meinem Vorhaben, das die Veranstaltung es verdient hat, sie komplett und ohne Hilfe bis Paris zu Ende zu fahren.
Am Anstieg zum höchsten Punkt der Strecke (349m) immerhin 12km lang, kam mir der einzig logische Blitzgedanke. Da hätte ich gleich drauf kommen können, und somit galt für mich zunächst als Ziel BREST. Dort wollte ich in aller Ruhe ankommen. So wie damals am Gardasee mit Jörn oder Jürgen. Nach einem ausgiebigen Mitternachtsmenü und einer Reservierung meiner Schlafgelegenheit für EUR 3,50 gönnte ich mir eine ganze Mütze von 5 Stunden Schlaf. Für die meisten von Euch mag das wenig vorkommen, aber viele drehen gleich wieder um und fahren wieder zurück. Das wollte und konnte ich einfach nicht. Ich zog meine nassen Klamotten bis auf die Radhose aus. Ich hätte jetzt viel um ein trockenes T-Shirt und eine Unterhose gegeben. So hieß es, die Radhose trocken zu tragen. Als Zudecke gab es die allgemein bekannten kratzigen Decken. Das hinderte mich jedoch nicht daran, sofort in einen komatösen Schlaf zu fallen. Fast pünktlich um 6:15 wurde ich geweckt, gönnte mir ein doppeltes Frühstück und als Bestätigung für die Zeit die ich mir für die Regeneration genommen hatte, genoss ich noch die Geschichte, eines Randoneurs, etwa 25 Jahre alt, der gerade in Brest mit Schürfwunden ankam. Auf meine Frage hin, wie das passiert ist, antworte er, dass er eingenickt und im Straßengraben aufgewacht ist… Jetzt muss er dringend Pause machen. Ich wartete noch bis es hell wurde und startete nach insgesamt 7 Stunden Pause mit Trockenheit und der Erwartung nach Frühnebel in einen sonnigen Tag fahren zu können. Dies hat sich dann auch auf der „Passhöhe“ bestätigt. Und mit Sonne in den Speichen ging es Richtung Paris. Ich war wieder richtig motiviert und meine eingeschlagene Taktik erwies sich als goldrichtig. Die enorme Essenszufuhr und meine Disziplin beim Radfahren kräftemäßig nicht zu überzocken, und das Thema Zeit im Auge zu behalten, aber nicht als oberste Prämisse zu sehen, zahlte sich jetzt mehr als aus. Auch wenn es mir jetzt keiner glaubt: meine Beine waren so frisch wie in Paris. Ich dachte mir, wenn das so weiter geht, dann kann ich auch 2000km fahren. Immer Essen, Trinken und ab und zu ein paar Stunden Schlaf – super!
Ich machte mir bewusst, trotz dieses Hochgefühls nicht übermütig zu werden. Es sind ja noch 550km. Ich habe jetzt praktisch Trondheim-Oslo vor mir mit etlichen Höhenmetern mehr. Was hält wohl die Wetterküche noch für Überraschungen bereit?
An der nächsten Verpflegung kam es zu dem von mir erwarteten Stau, da die 90hGruppe auf dem Weg von Paris Richtung Brest unterwegs war und gleichzeitig auch Fahrer von Brest auf dem Rückweg waren. Somit musste die Verpflegungsstelle mindestens die doppelte Anzahl von Radfahrern durchschleusen. Ich, gut genährt aus Brest gestartet, mit ausreichend Powerbars und sonstigen bestückt, ließ ich die Verpflegung aus. Bis zur nächsten Verpflegungsstelle war es trocken. Aber der bei uns in Cadolzburg so oft wehende Westwind gab hier eine andere Richtung vor. Es setzte sich das fort, was man schon bei der Hinfahrt bemerkt hatte. Ein leichter schräger Nordwind. Das Profil war weiterhin entsprechend wellig und ich hatte immer wieder mal Begleitpersonen unterschiedlichen Alters. Beeindruckend, ein 60jähriger der mich bei den ein oder anderen der 360 Anstiege doch aus der Reserve lockte… Bei der nächsten Verpflegung habe ich Verpasstes wieder nachgeholt, um auf keinen Fall bei Temperaturen um 12 Grad ein Hungergefühl aufkommen zu lassen. So ging es wenig spektakulär mit kurzen, kräftigen Regenschauern bis km 935, wo ich mir an einer weiteren Verpflegungsstelle eine Stunde Pause gönnte und kurz Manu und Peter anrief, um zu sagen, dass es mir saugut geht und es ein unbeschreibliches Gefühl ist, auf die1000km-Marke zuzusteuern. Jetzt dachte ich, ¾ der Strecke sind geschafft. Noch eine Nachtfahrt und dann geht die Sonne auf. Ich startete wieder mit entsprechendem Mageninhalt und fuhr alleine in die Nacht hinaus. Auf den Straßen ohne seitliche Fahrbahnmarkierungen und fehlenden Leitpfosten war man um eine Orientierung in Form von anderen Rücklichtern am Horizont schon dankbar. Das viele Essen, der Gegenwind, die nassen Klamotten vielleicht auch etwas der Km-Stand, ließen auf der 1-3%igen Steigung selten mehr als 22km/h zu. Ich drehte mich um und dachte, was kommt denn da angefahren? Ein LKW mit 4 hellen Scheinwerfern? Der LKW näherte sich recht zügig und entpuppte sich als 4er Gespann motivierter Radfahrer. Ich schätze, sie sind mit 5-6km/h schneller an mir vorbeigefahren. Eine der Personen fiel mir als besonders klein auf, was mich etwas irritierte. Ich dachte mir spontan, so einen LKW in der Nacht als Windschatten und als zusätzliche Sicherheit, besser gesehen zu werden, wäre nicht schlecht, aber meine Hähnchenschlegel rebellierten noch etwas und so sah ich die Gruppe so langsam entschwinden. Wie durch ein Wunder verspürte ich im selben Moment eine verhältnismäßige Leere im Magen und gutes Gefühl in den Beinen. Mein Jagdinstinkt war geweckt. Die km-Leistung vergessen und auch die Neugier auf die kleine Person ließ mich zielstrebig näher an die Gruppe herankommen. Mir gelang der Anschluss und in der Gruppe ging es trotz hoher Geschwindigkeit recht gesellig zu. Somit war nicht schwer festzustellen, dass ich im Frauenradsport gelandet war, was mich sichtlich beeindruckt. Vor allem von der 45kg-Frau, die bergauf eine Trittfrequenz an den Tag legte, wovon sogar Lance Armstrong träumen würde. Sobald die Geschwindigkeit unter ein gewisses Niveau fiel, wirbelte der 45-Kilo-Floh nach vorne und ihre Freundin setzte mit dickem Gang nach. Ihren Freunden und mir verblieb nur ein gewisses Staunen und ich wusste noch nicht genau, ob ich es wirklich wagen sollte, meine 1000km lang fest eingehaltene Disziplin aufzugeben und mich dem RTF-Tempo hinreißen zu lassen. Also gut, die letzten 250km schaffe ich schon. Wir fuhren dann nachts gegen 23 Uhr inzwischen wieder bei Dauerregen bergauf, bergab, Haarnadelkurven 4%ige Anstiege mit ca. 18km/h. Vielleicht nichts besonderes, aber nach 1000km, nassen Klamotten, Überschuhen, langen Handschuhen, Regenjacke und ca. 3,5kilo Mehrgepäck, Nabendynamo für mich doch nicht ohne Laktatausschüttung machbar. Währenddessen unterhielten sich die Damen an meinem Hinterrad recht angeregt. Der 45-Kilo-Floh setzte ab und zu einen Zwischensprint an, der mich jedoch unbeeindruckt ließ. Man könnte mir jetzt nachsagen, dass ich mit schnelleren Frauen nicht umzugehen weiß, ich habe normal damit keine Probleme, aber in der Situation war es einfach nicht fassbar und mir machte diese Fahrweise auch noch richtig Spaß. Ich muss dazu bemerken, bei km1020 fehlte mir NICHTS. Dann kam die nächst Kontrolle und ich wagte es, nur Kaffee und schnelle Kohlenhydrate in Form von Süßwaren zu mir zu nehmen. Ich denke auf Grund des geänderten Fahrstils war dies auch die sinnvollere Entscheidung. Als ich dann weiterfahren wollte, bemerkte ich, dass der Regen zu Starkregen überging. Es war Mitternacht und ich ging zurück um eine weitere Tasse Kaffee zu trinken. Dann kamen mir die beiden Mädels entgegen, die auf dem Weg nach Draußen waren und ich bemerkte, dass Wetter sei noch schlechter. Sie fragten mich, ob ich nicht mit ihnen weiterfahren möchte (vielleicht hat ihnen mein Windschatten auch gut getan ;-) und mein Hinweis auf das Wetter antworteten sie nur „in Paris ist es auch nicht besser – lass uns fahren“. Gesagt, getan, mit gehangen, mit gefangen. Ihre beiden Freunde waren nicht mehr da und somit wurde aus unserer 3erGruppe schnell eine 6erGruppe mit der wir die vorletzte Verpflegungsstelle bei 1100km ansteuerten. Ein kurzer Schlussanstieg und ich merkte auf den letzten 500m, jetzt ist es so weit, Flasche leer… Weitere Nahrungsaufnahme in Form von Spagetti in den Morgenstunden, Süßigkeiten, Kaffee, half nichts mehr. Auch meine Achillessehne schmerzte, und das Knie zwickte. Die Handballen brannten und die Nackenmuskulatur hatte auch zu kämpfen. Zu meinem Trost waren auch die Mädels ruhig gestellt und ihre Köpfe fielen auf den Tisch und sie gönnten sich ein paar Minuten Schlaf.
Es ging aber bald weiter. Mit dickem Gang nahm die eine die ersten Steigungen, das andere Mädel wirbelte wieder hinterher. Jetzt geht das wieder los, dachte ich mir, das gibt’s doch nicht! Kurz drauf müssen sie sich aber noch mal die Regenjacken ausziehen, während ich gleich weiterfuhr und dachte, ihr holt mich ja sowieso wieder ein. Trotz meiner vielen Pinkelpausen, Sitzbeschwerden, dauerte es ewig bis wir uns wieder getroffen haben. Und so fuhren wir recht defensiv mit strammen Gegenwind und laschen 20km/h über die weite Ebene, die die Mädels (aus Holland stammend) an ihre Heimat erinnern müsste. An der letzten Verpflegungsstelle angekommen stellte sich heraus, dass Klaus zur selben Zeit die Kontrollkarte durchgezogen hat wie ich. Ich fand Klaus aber nicht. Auf der letzten Etappe habe ich noch einen Randoneur getroffen, der sich für seine Unhöflichkeit entschuldigte, weil er mich beim Sprechen nicht ansah. Er konnte einfach seinen Kopf weder heben noch drehen… Inzwischen breitete sich aus meinen Fuß ein Schmerz einer daumengroßen Blase aus, die sich in Windeseile in eine gefühlte Riesenblase und zwar in Schuhgröße 42 auszudehnen schien. Durch die jetzt schon 65 Stunden andauernde Feuchtigkeit in meinem Schuh muss sich hier ein Waschküchen-Klima entwickelt haben. Ich vermutete, beim Ausziehen meines Sockens, den halben Fuß daran zu finden. Meine bisherige Taktik, hauptsächlich die Anstiege mit schwereren Gängen im Stehen zu fahren, um damit das Sitzfleisch zu entlasten, konnte ich nicht weiterverfolgen. Hinsetzen konnte ich mich auch nicht mehr richtig, da sich auch da nicht gekannte Schmerzen breit machten. Aber es war ja nicht mehr weit. 15km vor dem Ziel rollte ich Klaus auf und wir konnten zusammen ins Ziel fahren. Zu unserer Enttäuschung machte die Strecke unendliche erscheinende Schlenkerer mit vielen Ampeln. Dass die Zielankunft sehr nüchtern ist, wusste ich, und trotzdem war ich enttäuscht. Nur die Anwesenheit von Manu wertete die Zielankunft auf. Auch Silvia konnte ihren Klaus in die Arme schließen. Ansonsten schiebt man sein Rad über ein kurzes Stück Schotter, lehnt es an eine Hecke, stolpert in die Turnhalle, zieht ein letztes Mal seine Karte durch, ein letzter Stempel und das war’s. Um 14:52 war ich im Ziel. Die Füße hätte man als Krokodillederhaut durchgehen lassen können. Der Handballen war mit einer Blutblase garniert, die Achillessehne geschwollen und am Sitzfleisch machte sich auch eine bisher nur vom Wandern bekannte Blase breit. Manu verarztete mich aber exzellent mit Penatencreme und anderen Mittelchen, so dass wir am Mittag des nächsten Tages Paris im japanischen Schnelldurchgangsstil anschauen konnten. Trepp-ab machte die größten Probleme, es ging nur Stufe für Stufe und ein anderer Fahrgast in der U-Bahn sprach mich an, was mit mir los wäre. In gebrochenem Französisch machte ich ihm klar, dass ich Paris-Brest-Paris mitgefahren bin und er lächelte. Aber die 200 Stufen zum Triumpfbogen hinauf streckten mich dann doch nieder – Knie und Achillessehne schmerzten. Ein toller Anblick und schöner Abschluss war mit Einbrechen der Dunkelheit der Blick auf den Eifelturm.
Bis zur ersten Verpflegungsstelle (140km) blieb dies auch so. Ich nutzte diese gleich zur Nahrungsaufnahme, um einen Hungerast oder ähnliches zu vermeiden, während der Expresszug anscheinend gleich durchfuhr und so wurde die zweite Etappe trotz ähnlicher Verhältnisse gleich 2-3km/h langsamer. Nach 220km gönnte ich mir an der Kontrollstelle erstmals ein opulentes mahl und als ich zum Radparkplatz kam, war ich mehr oder weniger allein. Inzwischen natürlich stockdunkel konnte ich keine passende Gruppe mehr finden. Entweder sie war zu schnell oder zu langsam, so hielt ich mich entsprechend meiner persönlichen Vorgabe: MEIN Tempo – alles andere interessiert nicht.
Es begann langsam zu nieseln, aber ich konnte noch gut mit meiner dünnen Regenjacke fahren, auch die Straße wurde noch nicht so richtig nass – es war auszuhalten. Dafür kam es dann umso dicker. Bei km 315 gab es den ersten Starkregen und von da ab hatte ich kein trockenes Kleidungsstück mehr am Leib und Gepäck. Die Temperaturen waren mit 14-15 Grad noch angenehm. Die nahende Verpflegungsstelle nutzte ich wieder für großzügigen Essensnachschub in Form von Hähnchenschlegeln, Kartoffelpüree, Nudeln, Croissants, Pfirsich, Birne, Joghurt, Alkfrei-Bier, Kaffee. Die Leute an der Kasse dachten, ich kaufe für einen ganzen Verein ein. Meine zunächst vermutete Schwäche in den Beinen war nicht auf Formschwäche zurückzuführen sondern auf Blutleere in den Beinen, weil der Magen alles zum Verdauen brauchte. Somit waren nach 20-30km die Beine immer wieder in Ordnung, was mir dann entsprechend Selbstvertrauen für den weiteren Verlauf der Strecke gab. Trotzdem hatte ich die Schwierigkeit, mir nach wie vor nicht vorstellen zu können, wie ich von Brest wieder zurückkommen sollte. Bis Brest (km 630) kein Problem, die Distanz kannte ich von verschiedenen Fahrten zum Gardasee, Trondheim-Oslo, Martigny-Nizza,… aber mit den inzwischen nassen Klamotten und den Wetteraussichten jetzt noch rund 800km fahren – wie soll das gehen? Mir gelang es einfach nicht, mich mental auf die Strecke von 1200km einzustellen. Wahrscheinlich war es doch ein Fehler, dass freiwillige Brevet über 1000km in Osterdorf nicht zu absolvieren. Aber es gab zum Glück kein Begleitfahrzeug, die Zugstrecke liegt weit weg, und so musste ich einfach das mentale Tief durchstehen, was alles andere als leicht war. Durch die Anfeuerungsrufe und Verpflegungsstände der Anwohnern in den Dörfern sowohl tagsüber als auch nachts bestärkten mich in meinem Vorhaben, das die Veranstaltung es verdient hat, sie komplett und ohne Hilfe bis Paris zu Ende zu fahren.
Am Anstieg zum höchsten Punkt der Strecke (349m) immerhin 12km lang, kam mir der einzig logische Blitzgedanke. Da hätte ich gleich drauf kommen können, und somit galt für mich zunächst als Ziel BREST. Dort wollte ich in aller Ruhe ankommen. So wie damals am Gardasee mit Jörn oder Jürgen. Nach einem ausgiebigen Mitternachtsmenü und einer Reservierung meiner Schlafgelegenheit für EUR 3,50 gönnte ich mir eine ganze Mütze von 5 Stunden Schlaf. Für die meisten von Euch mag das wenig vorkommen, aber viele drehen gleich wieder um und fahren wieder zurück. Das wollte und konnte ich einfach nicht. Ich zog meine nassen Klamotten bis auf die Radhose aus. Ich hätte jetzt viel um ein trockenes T-Shirt und eine Unterhose gegeben. So hieß es, die Radhose trocken zu tragen. Als Zudecke gab es die allgemein bekannten kratzigen Decken. Das hinderte mich jedoch nicht daran, sofort in einen komatösen Schlaf zu fallen. Fast pünktlich um 6:15 wurde ich geweckt, gönnte mir ein doppeltes Frühstück und als Bestätigung für die Zeit die ich mir für die Regeneration genommen hatte, genoss ich noch die Geschichte, eines Randoneurs, etwa 25 Jahre alt, der gerade in Brest mit Schürfwunden ankam. Auf meine Frage hin, wie das passiert ist, antworte er, dass er eingenickt und im Straßengraben aufgewacht ist… Jetzt muss er dringend Pause machen. Ich wartete noch bis es hell wurde und startete nach insgesamt 7 Stunden Pause mit Trockenheit und der Erwartung nach Frühnebel in einen sonnigen Tag fahren zu können. Dies hat sich dann auch auf der „Passhöhe“ bestätigt. Und mit Sonne in den Speichen ging es Richtung Paris. Ich war wieder richtig motiviert und meine eingeschlagene Taktik erwies sich als goldrichtig. Die enorme Essenszufuhr und meine Disziplin beim Radfahren kräftemäßig nicht zu überzocken, und das Thema Zeit im Auge zu behalten, aber nicht als oberste Prämisse zu sehen, zahlte sich jetzt mehr als aus. Auch wenn es mir jetzt keiner glaubt: meine Beine waren so frisch wie in Paris. Ich dachte mir, wenn das so weiter geht, dann kann ich auch 2000km fahren. Immer Essen, Trinken und ab und zu ein paar Stunden Schlaf – super!
Ich machte mir bewusst, trotz dieses Hochgefühls nicht übermütig zu werden. Es sind ja noch 550km. Ich habe jetzt praktisch Trondheim-Oslo vor mir mit etlichen Höhenmetern mehr. Was hält wohl die Wetterküche noch für Überraschungen bereit?
An der nächsten Verpflegung kam es zu dem von mir erwarteten Stau, da die 90hGruppe auf dem Weg von Paris Richtung Brest unterwegs war und gleichzeitig auch Fahrer von Brest auf dem Rückweg waren. Somit musste die Verpflegungsstelle mindestens die doppelte Anzahl von Radfahrern durchschleusen. Ich, gut genährt aus Brest gestartet, mit ausreichend Powerbars und sonstigen bestückt, ließ ich die Verpflegung aus. Bis zur nächsten Verpflegungsstelle war es trocken. Aber der bei uns in Cadolzburg so oft wehende Westwind gab hier eine andere Richtung vor. Es setzte sich das fort, was man schon bei der Hinfahrt bemerkt hatte. Ein leichter schräger Nordwind. Das Profil war weiterhin entsprechend wellig und ich hatte immer wieder mal Begleitpersonen unterschiedlichen Alters. Beeindruckend, ein 60jähriger der mich bei den ein oder anderen der 360 Anstiege doch aus der Reserve lockte… Bei der nächsten Verpflegung habe ich Verpasstes wieder nachgeholt, um auf keinen Fall bei Temperaturen um 12 Grad ein Hungergefühl aufkommen zu lassen. So ging es wenig spektakulär mit kurzen, kräftigen Regenschauern bis km 935, wo ich mir an einer weiteren Verpflegungsstelle eine Stunde Pause gönnte und kurz Manu und Peter anrief, um zu sagen, dass es mir saugut geht und es ein unbeschreibliches Gefühl ist, auf die1000km-Marke zuzusteuern. Jetzt dachte ich, ¾ der Strecke sind geschafft. Noch eine Nachtfahrt und dann geht die Sonne auf. Ich startete wieder mit entsprechendem Mageninhalt und fuhr alleine in die Nacht hinaus. Auf den Straßen ohne seitliche Fahrbahnmarkierungen und fehlenden Leitpfosten war man um eine Orientierung in Form von anderen Rücklichtern am Horizont schon dankbar. Das viele Essen, der Gegenwind, die nassen Klamotten vielleicht auch etwas der Km-Stand, ließen auf der 1-3%igen Steigung selten mehr als 22km/h zu. Ich drehte mich um und dachte, was kommt denn da angefahren? Ein LKW mit 4 hellen Scheinwerfern? Der LKW näherte sich recht zügig und entpuppte sich als 4er Gespann motivierter Radfahrer. Ich schätze, sie sind mit 5-6km/h schneller an mir vorbeigefahren. Eine der Personen fiel mir als besonders klein auf, was mich etwas irritierte. Ich dachte mir spontan, so einen LKW in der Nacht als Windschatten und als zusätzliche Sicherheit, besser gesehen zu werden, wäre nicht schlecht, aber meine Hähnchenschlegel rebellierten noch etwas und so sah ich die Gruppe so langsam entschwinden. Wie durch ein Wunder verspürte ich im selben Moment eine verhältnismäßige Leere im Magen und gutes Gefühl in den Beinen. Mein Jagdinstinkt war geweckt. Die km-Leistung vergessen und auch die Neugier auf die kleine Person ließ mich zielstrebig näher an die Gruppe herankommen. Mir gelang der Anschluss und in der Gruppe ging es trotz hoher Geschwindigkeit recht gesellig zu. Somit war nicht schwer festzustellen, dass ich im Frauenradsport gelandet war, was mich sichtlich beeindruckt. Vor allem von der 45kg-Frau, die bergauf eine Trittfrequenz an den Tag legte, wovon sogar Lance Armstrong träumen würde. Sobald die Geschwindigkeit unter ein gewisses Niveau fiel, wirbelte der 45-Kilo-Floh nach vorne und ihre Freundin setzte mit dickem Gang nach. Ihren Freunden und mir verblieb nur ein gewisses Staunen und ich wusste noch nicht genau, ob ich es wirklich wagen sollte, meine 1000km lang fest eingehaltene Disziplin aufzugeben und mich dem RTF-Tempo hinreißen zu lassen. Also gut, die letzten 250km schaffe ich schon. Wir fuhren dann nachts gegen 23 Uhr inzwischen wieder bei Dauerregen bergauf, bergab, Haarnadelkurven 4%ige Anstiege mit ca. 18km/h. Vielleicht nichts besonderes, aber nach 1000km, nassen Klamotten, Überschuhen, langen Handschuhen, Regenjacke und ca. 3,5kilo Mehrgepäck, Nabendynamo für mich doch nicht ohne Laktatausschüttung machbar. Währenddessen unterhielten sich die Damen an meinem Hinterrad recht angeregt. Der 45-Kilo-Floh setzte ab und zu einen Zwischensprint an, der mich jedoch unbeeindruckt ließ. Man könnte mir jetzt nachsagen, dass ich mit schnelleren Frauen nicht umzugehen weiß, ich habe normal damit keine Probleme, aber in der Situation war es einfach nicht fassbar und mir machte diese Fahrweise auch noch richtig Spaß. Ich muss dazu bemerken, bei km1020 fehlte mir NICHTS. Dann kam die nächst Kontrolle und ich wagte es, nur Kaffee und schnelle Kohlenhydrate in Form von Süßwaren zu mir zu nehmen. Ich denke auf Grund des geänderten Fahrstils war dies auch die sinnvollere Entscheidung. Als ich dann weiterfahren wollte, bemerkte ich, dass der Regen zu Starkregen überging. Es war Mitternacht und ich ging zurück um eine weitere Tasse Kaffee zu trinken. Dann kamen mir die beiden Mädels entgegen, die auf dem Weg nach Draußen waren und ich bemerkte, dass Wetter sei noch schlechter. Sie fragten mich, ob ich nicht mit ihnen weiterfahren möchte (vielleicht hat ihnen mein Windschatten auch gut getan ;-) und mein Hinweis auf das Wetter antworteten sie nur „in Paris ist es auch nicht besser – lass uns fahren“. Gesagt, getan, mit gehangen, mit gefangen. Ihre beiden Freunde waren nicht mehr da und somit wurde aus unserer 3erGruppe schnell eine 6erGruppe mit der wir die vorletzte Verpflegungsstelle bei 1100km ansteuerten. Ein kurzer Schlussanstieg und ich merkte auf den letzten 500m, jetzt ist es so weit, Flasche leer… Weitere Nahrungsaufnahme in Form von Spagetti in den Morgenstunden, Süßigkeiten, Kaffee, half nichts mehr. Auch meine Achillessehne schmerzte, und das Knie zwickte. Die Handballen brannten und die Nackenmuskulatur hatte auch zu kämpfen. Zu meinem Trost waren auch die Mädels ruhig gestellt und ihre Köpfe fielen auf den Tisch und sie gönnten sich ein paar Minuten Schlaf.
Es ging aber bald weiter. Mit dickem Gang nahm die eine die ersten Steigungen, das andere Mädel wirbelte wieder hinterher. Jetzt geht das wieder los, dachte ich mir, das gibt’s doch nicht! Kurz drauf müssen sie sich aber noch mal die Regenjacken ausziehen, während ich gleich weiterfuhr und dachte, ihr holt mich ja sowieso wieder ein. Trotz meiner vielen Pinkelpausen, Sitzbeschwerden, dauerte es ewig bis wir uns wieder getroffen haben. Und so fuhren wir recht defensiv mit strammen Gegenwind und laschen 20km/h über die weite Ebene, die die Mädels (aus Holland stammend) an ihre Heimat erinnern müsste. An der letzten Verpflegungsstelle angekommen stellte sich heraus, dass Klaus zur selben Zeit die Kontrollkarte durchgezogen hat wie ich. Ich fand Klaus aber nicht. Auf der letzten Etappe habe ich noch einen Randoneur getroffen, der sich für seine Unhöflichkeit entschuldigte, weil er mich beim Sprechen nicht ansah. Er konnte einfach seinen Kopf weder heben noch drehen… Inzwischen breitete sich aus meinen Fuß ein Schmerz einer daumengroßen Blase aus, die sich in Windeseile in eine gefühlte Riesenblase und zwar in Schuhgröße 42 auszudehnen schien. Durch die jetzt schon 65 Stunden andauernde Feuchtigkeit in meinem Schuh muss sich hier ein Waschküchen-Klima entwickelt haben. Ich vermutete, beim Ausziehen meines Sockens, den halben Fuß daran zu finden. Meine bisherige Taktik, hauptsächlich die Anstiege mit schwereren Gängen im Stehen zu fahren, um damit das Sitzfleisch zu entlasten, konnte ich nicht weiterverfolgen. Hinsetzen konnte ich mich auch nicht mehr richtig, da sich auch da nicht gekannte Schmerzen breit machten. Aber es war ja nicht mehr weit. 15km vor dem Ziel rollte ich Klaus auf und wir konnten zusammen ins Ziel fahren. Zu unserer Enttäuschung machte die Strecke unendliche erscheinende Schlenkerer mit vielen Ampeln. Dass die Zielankunft sehr nüchtern ist, wusste ich, und trotzdem war ich enttäuscht. Nur die Anwesenheit von Manu wertete die Zielankunft auf. Auch Silvia konnte ihren Klaus in die Arme schließen. Ansonsten schiebt man sein Rad über ein kurzes Stück Schotter, lehnt es an eine Hecke, stolpert in die Turnhalle, zieht ein letztes Mal seine Karte durch, ein letzter Stempel und das war’s. Um 14:52 war ich im Ziel. Die Füße hätte man als Krokodillederhaut durchgehen lassen können. Der Handballen war mit einer Blutblase garniert, die Achillessehne geschwollen und am Sitzfleisch machte sich auch eine bisher nur vom Wandern bekannte Blase breit. Manu verarztete mich aber exzellent mit Penatencreme und anderen Mittelchen, so dass wir am Mittag des nächsten Tages Paris im japanischen Schnelldurchgangsstil anschauen konnten. Trepp-ab machte die größten Probleme, es ging nur Stufe für Stufe und ein anderer Fahrgast in der U-Bahn sprach mich an, was mit mir los wäre. In gebrochenem Französisch machte ich ihm klar, dass ich Paris-Brest-Paris mitgefahren bin und er lächelte. Aber die 200 Stufen zum Triumpfbogen hinauf streckten mich dann doch nieder – Knie und Achillessehne schmerzten. Ein toller Anblick und schöner Abschluss war mit Einbrechen der Dunkelheit der Blick auf den Eifelturm.
Resümee: Die Veranstaltung ist super, tolle Organisation und Verpflegung, wer Langstrecke liegt, kann darin seinen radsportlichen Höhepunkt erleben. Für meinen Fall soll dies aber auch einzigartig bleiben und nicht in einer weiteren Steigerung ausarten. Ich hoffe, dass es mir nicht so geht, wie 27% der Teilnehmer, die mindestens zum zweiten Mal dabei waren.
El Patrone
4 Kommentare:
Fotos gibts leider noch keine, aber ein paar vom Start mit aufgeregtem Patrone kann ich nachliefern. :-)
Und eigentlich ist da auch noch MEIN Bericht fällig, das Warten, die Anrufe, und das Gefühl als er im Ziel war. Aber dazu brauche ich dann wirklich die Fotos, die ich mit dem geliehenen Apparat gemacht habe...
Schneeflocke :-)
Immer wieder spannend und beeindruckend.
Ich vermisse die Anekdote über den Sekundenschlaf im Rosenbeet. Für mich auch eine Episode, die die ungemeine Härte dieser Herausforderung sehr gut darstellt.
grüße
b-l-a-u
großes fahrradkino!
Ganz großer Respekt von mir! Wirklich tolle Leistung.
Gruß, Benny
Kommentar veröffentlichen